Dann mach ich eben Schluss – Christine Fehér
Wenn ich in der Jugendbuchabteilung einer guten Buchhandlung nach einem Roman greife, dann erwarte ich sowohl vom Sprachstil, von der Komplexität der Handlung, vom Alter der Protagonisten und vom Thema, dass sich jugendliche Leser hier in besonderer Weise angesprochen fühlen.
Gerade bei aktueller Literatur für junge Leser, die sich mit den wichtigen Themen Stress, Leistungsdruck in der Schule, Gruppendynamik, Selbstfindung, Mobbing und Erwachsenwerden beschäftigt, hoffe ich immer wieder darauf, Bücher zu finden, die Jugendlichen hilfreiche Bilder vor Augen führen, Halt geben und Orientierungshilfe sein können.
Als Musterbeispiel sei hier „Tote Mädchen lügen nicht“ von Jay Asher aufgeführt. Mehr als intensiv und ohne große Umwege wird hier einer Gruppe Jugendlicher gezeigt, welches Ausmaß an Verantwortung jeder einzelne für den Selbstmord einer Mitschülerin trägt. Lapidare und oberflächliche Bemerkungen führen in offensichtlich ausweglosen Situationen zum finalen Totalkollaps. Eine bestechende Aussage, die haften bleibt und an der junge Menschen wachsen können. Diejenigen, die leiden und diejenigen, die lästern und einengen.
Dann mach ich eben Schluss – Christine Fehér
Als ich den Roman „Dann mach ich eben Schluss„ von Christine Fehér las, dachte ich im falschen Lesealter gelandet zu sein. Die Ausweglosigkeit eines jungen Menschen wird in diesem beeindruckenden und tief angelegten Roman fast ausschließlich von Erwachsenen verursacht. Gleichaltrige Freunde setzen dem persönlichen Horrorszenario in weiten Teilen jeweils das I-Tüpfelchen auf und bringen das Fass zum Überlaufen, das Eltern und Lehrer beharrlich geflutet haben.
„Dann mach ich eben Schluss“ ist kein ein reines Jugendbuch, das man zur Pflicht-Schul-Lektüre erheben sollte. Es ist ein psychologisch meisterhaft gezeichnetes Lehrstück für Eltern und Lehrer – es kann rettender Indikator zum rechtzeitigen Erkennen lebensgefährlicher Rückzugsgefechte Jugendlicher sein und es zeigt in unfassbarer Eindringlichkeit, wie viele Möglichkeiten der Hilfe es gegeben hätte, einen sich abzeichnenden Selbstmord zu verhindern.
Dieses Fazit vorangestellt soll auch Erwachsene dazu verleiten, diese Buchvorstellung intensiv zu lesen und dieses Jugendbuch für sich selbst als Pflichtlektüre zu entdecken. Es kann in seiner Schonungslosigkeit die Augen öffnen und entfaltet seine volle Wirkung nur dann, wenn Jung und Alt darüber in Dialog treten können. Und um reden zu können, sollte man die gleiche Sprache sprechen. Versucht es mit diesem Buch… Es hilft, diese Sprache zu finden.
Dann mach ich eben Schluss – Christine Fehér – Aufprall
Schon auf den ersten Seiten des Romans enden wir dort, wo wir eigentlich nicht enden wollten. Wir enden frontal an einem Baum, hören die hektischen Rufe des Rettungspersonals und bekommen so langsam mit, was hier geschehen ist. Vier Jugendliche im Auto auf der Rückfahrt von einer Party. Endstation Baum. Drei von ihnen überleben teilweise schwer verletzt, der Fahrer selbst stirbt.
Maximilian Rothe, 18 Jahre alt – keinen Tropfen Alkohol im Blut, keine Drogen, übersichtliche Strecke, kein Grund, die Gewalt über den Wagen zu verlieren. Und doch – ein scheinbar gezielter Einschlag mit dem Auto im Baum. Fahrerseite. Tod. Schnell kommt die Frage auf, ob es Absicht, ob es Selbstmord gewesen sein könnte.
Aber wer macht denn so was? Mit seiner Schwester Natalie, seiner Freundin Annika und seinem besten Freund Paul im Auto? Allein, Max kann nicht mehr antworten und einen Abschiedsbrief hat er nicht hinterlassen. Aber ein ganzes nicht gelebtes Leben liegt hinter ihm und es beginnt die Suche nach den Anzeichen dafür, dass es ihm nicht mehr lebenswert genug war.
Dann mach ich eben Schluss – Christine Fehér – Vorzeichen
Hätte man Augen gehabt, um zu sehen – hätte man Ohren gehabt, um zu hören – hätte man Empathie gehabt, sich in ihn hineinzuversetzen – man hätte nicht lange suchen müssen. Die Gründe für das Scheitern eines jungen Lebensentwurfs lagen nicht im Verborgenen. Sie hüllten Max Rothe ein, wie ein für alle sichtbarer Schleier aus Verzweiflung und Scheitern.
Und nun kommen alle zu Wort. Nacheinander, fein sortiert, Schwester, Freunde, Eltern, Lehrer und aus all diesen Perspektiven ergibt sich ein Mosaikbild von Maximilan Rothe. Eines mit vielen Rissen zwischen den einzelnen Steinchen. Risse, die jeder für sich hätte erkennen können und müssen. Hätte man… hätte man doch nur… dann hätte man ihn erkannt:
Den hochbegabten Zeichner, der jeder von ihm skizzierten Figur ein Leben einzuhauchen vermochte, das die Wahrheit des Charakters in allen Facetten zeigt und der doch nicht zeichnen durfte. Der väterlichen Vorgabe hatte er zu folgen. Mit aller Strenge. Stundenlanges beaufsichtigtes Mathe-Pauken im Wohnzimmer, Lernen bis zur Verzweiflung und bis zum nächsten Blackout. Vater gab vor – Max hatte sich zu fügen. Volljährig hin oder her.
Dann mach ich eben Schluss – Christine Fehér – Mathewahn
Dieser Anzug passte ihm nicht. Die Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben und doch nahm die Bevormundung mit subtilen Mitteln und knallharten Drohungen kein Ende. Leben im falschen Film. So muss er sich vorgekommen sein. Und das nicht nur zuhause. Die Schule engte ihn ein. Mathematik und Wissenschaft da, wo er Kreativität brauchte, wie ein Fisch das Wasser. Ein Vertretungslehrer, der ihn in der Abi-Prüfung frontal gegen die Wand laufen ließ, raubte Maximilian die letzte Luft zum Atmen.
Sein einziger Vertrauter – der einzige Erwachsene dem er glaubte, sein Tutor und Klassenlehrer plötzlich krank – Totalausfall, nachdem Max` Vater ihn für das Versagen seines Sohnes mitverantwortlich gemacht hatte. Infarkt. Gesundheit am Arsch und der Rettungsanker für Max verloren.
Seine Schwester Natalie, intensiv mit sich selbst beschäftigt und eher in der Lage, sich gegen den Vater zu behaupten, lebte ihr Leben und erkannte die Enge im Leben ihres Bruders nur oberflächlich und zu spät. Seine Freundin Annika, immer bestrebt aus Max das zu machen, was man einen vorzeigbaren Freund nennt. Verändern wollte sie ihn. Täglich korrigierte und forderte sie, mäkelte und nahm. Sie gab wenig – nicht einmal Halt. Paul, sein bester Freund, ein wichtiger Mensch im Leben von Max. Jemand zu dem er aufblickte. Einserschüler, Mathe-Genie und siegessicherer Sonnenschein. Zu weit weg, wenn es drauf ankam. Zu oberflächlich, wenn Max sich zu öffnen versuchte und zu egoistisch, um sich in seine Lage zu versetzen.
Dann mach ich eben Schluss – Christine Fehér – Portraits
Niemand kommt für sich selbst zum Ergebnis, er hätte erkennen oder verhindern können. Niemand gesteht sich dies zu, bis jeder eine Papprolle erhält. Der Inhalt öffnet nicht nur die Augen. Der Inhalt verändert das Selbstbild eines jeden, denn es sind Bilder, die Max gemalt hat. Portraits seines Vaters, seiner Freundin, Portraits der Lehrer… Keine Selbstbildnisse, sondern Momentaufnahmen der vernichtenden Wirkung von Menschen auf jemanden, den sie nicht so hätten malen können, weil sie ihn nie richtig sahen. Maximilian Rothe.
Es ist die pure Ironie des Schicksals, dass nur ein Mensch ihn richtig erkannte, so wie Max selbst wahrgenommen werden wollte. Es gab nur diesen einen Menschen, aber auch dieser stand der Entwicklung hilflos gegenüber. Seine einzige wahre und doch heimliche Liebe, von der niemand ahnt, dass sie diejenige ist, die am meisten verloren hat. Auch sie kommt zu Wort. Ganz am Ende… Delia
Christine Fehér schreibt ihren Lesern ins Herz. Sie beschönigt nicht, spricht eine klare Sprache, spricht von Schuld und Mitschuld, von Unvermögen und Teilnahmslosigkeit. Sie spricht aber auch von großer Liebe und von der Ausweglosigkeit eines Lebens, das nicht einmal die Liebe zu retten vermag.
Ein erwachsenes Buch für Menschen, die verstehen wollen. Eines für Jugendliche allemal, auch wenn sie nach dem Lesen wenig ändern können. Diese Verantwortung liegt allein bei uns. Eltern, Pädagogen, Erwachsenen. Diese Verantwortung kann man uns nicht nehmen und wir können sie nicht abstreifen. Ansonsten stehen wir eines Tages vor einem Grab… und stellen uns die dämlichste Frage aller Fragen: WARUM?
Wer das Eine mag, wird das Andere lieben – und umgekehrt…
Nachdem dieser brillante Roman im Jahr 2014 mit dem renommierten Jugendbuchpreis „Buxtehuder Bulle„ ausgezeichnet wurde, war es mir ein besonderes Vergnügen, Christine Fehér auf der Frankfurter Buchmesse exklusiv interviewen zu dürfen. Hier geht es zum Messegespräch über Jugendbücher, Bullen, ein gut gehütetes Geheimnis und vieles mehr.
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