Herzlich willkommen im Archiv der literarischen Sternwarte

AstroLibrium - Die kleine literarische Sternwarte

AstroLibrium – Die kleine literarische Sternwarte

Dies ist mein privates Lebens-Artikel-Archiv, in dem ich alle Rezensionen vereinigt habe, die in den letzten Jahren entstanden sind. Wichtig ist mir hierbei insbesondere, dass sie mit den aktuell auf AstroLibrium entstehenden Artikeln in ständigem Dialog stehen, um in der Rückschau eine buchige Einheit zu bilden.

Ich würde mich sehr freuen, Sie auf meinem aktuellen Literaturblog begrüßen zu dürfen, um Ihnen den Weg zu den literarischen Fixsternen am Bücherhimmel weisen zu können.

Ihr Mr. Rail

Mit einem Klick zur Strnwarte der Literatur

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Dank meiner Mutter – Im Ghetto Wilna mit Schoschana Rabinovici (10 J.)

Dank meiner Mutter – Schoschana Rabinovici

Dank meiner Mutter – Schoschana Rabinovici

Ich würde mir gerne erlauben, euch eine Geschichte vorzustellen. Nicht weil sie einfach so dramatisch ist, oder unfassbar gut erzählt. Nicht weil sie zu Tränen rührt oder Wutausbrüche während des Lesens verursacht. Nicht weil sie mithungern, mitfiebern, mitleiden, mitweinen oder mitleiden lässt. Nicht weil sie unendlich brutal oder psychisch extrem herausfordernd ist. Nicht weil sie herzergreifend ist oder schlafloses Lesen bereitet. Das wären sicherlich gute Gründe, die auch alle auf diese Geschichte zutreffen – aber ich möchte sie euch aus einem anderen Grund vorstellen: Weil sie WAHR ist.

So wahr, dass man – auch wenn man schon seit Jahren “Gegen das Vergessen” schreibt und alles Grauen des Holocaust denkt erfühlt, erfahren und erlesen zu haben – während des Lesens nicht mehr genau weiß, wie tief Mitgefühl und Mitleid reichen können. So weit, dass man nicht mehr sagen kann, wie tief man in die Abgründe des kindlichen Schmerzes eintauchen kann, um nur ansatzweise zu verstehen, was dieses kleine litauische Mädchen im seiner Kindheit erlebt hat. Eine Kindheit, die im Alter zwischen dem 10. und 13. Lebensjahr der Hölle auf Erden glich… wenn das nicht eine Verharmlosung ist, da die Hölle nur in unserer Vorstellung besteht.

Nehmt Platz und schaut, dass ihr jemanden habt, an dem ihr euch festhalten könnt, wenn ihr dieses kleine Mädchen kennen lernt. Atmet noch einmal tief ein und aus, bevor ich euch ihre Mutter vorstelle. Eine Frau, der jenes Mädchen mit dem Buch Dank meiner Mutter ein zeitlos bleibendes Denkmal gesetzt hat. Ich möchte euch Schoschana Rabinovici vorstellen. Sie ist Physiotherapeutin und lebt in Wien. Und sie ist litauische Jüdin. Ohne ihre Mutter Raja würde dieses Buch nicht in unseren Händen liegen, da Schoschana hundert Tode gestorben wäre ohne sie.

Dank meiner Mutter – Schoschana Rabinovici – Kein Leben für Kinder

Dank meiner Mutter – Schoschana Rabinovici – Kein Leben für Kinder

In einer Zeit als das junge Mädchen noch Susie Weksler hieß. In einer Zeit, in der ihre ganze Familie im litauischen Wilna lebte. In einer Zeit, in der sie sich behütet und beschützt fühlte. 1941. Susie wird gerade einmal zehn Jahre alt. Wilna – 1941. Die Wehrmacht marschiert ein. Litauen – Wilna – 1941. Ein Leidensweg beginnt. Nicht nur für Susie und ihre Mutter Raja. Abertausende litauische Juden geraten in die Mühlen dessen, was man heute als Holocaust oder Shoa bezeichnet.

Die völlige Auslöschung – das völlige Verbrennen millionenfachen Lebens – den systematischen Mord an einem ganzen Volk.

Mit dem unerwarteten Einmarsch der deutschen Wehrmacht und der Vertreibung russischer Truppen aus ganz Litauen vollzieht sich der Beginn des Todesdramas litauischer Bürger, die sich nur in ihrem Glauben von ihren Landsleuten unterscheiden, und auch in der Zivilbevölkerung bricht der nackte Antisemitismus aus. Die Wehrmacht muss anfangs nicht selbst Hand anlegen. Nur wegschauen und zustimmen. Das reicht aus, um die Erschießung von mehreren tausend jüdischen Männern in der Nähe von Wilna in die Tat umzusetzen.

Eines der ersten Opfer ist Susies Vater und von diesem Moment an lebt die Familie in ständiger Alarmbereitschaft. Doch es gibt keine Möglichkeit zur Flucht. Die deutschen Truppen haben neben dem Sieg gegen Russland einen weiteren ideologisch geprägten Hauptauftrag. Die Vernichtung allen jüdischen Lebens in den besetzten Gebieten. Und sie gehen dabei systematisch vor. So systematisch, dass man den Glauben an die Menschlichkeit verliert, wenn man betrachtet, mit welch barbarischem Kalkül die Auslöschung eines ganzen Volkes vorangetrieben wird.

Dank meiner Mutter – Schoschana Rabinovici – Widerstand im Ghetto

Dank meiner Mutter – Schoschana Rabinovici – Widerstand im Ghetto

Was dann folgt lässt sich kaum beschreiben. Schoschana Rabinovici versetzt sich in ihren Erinnerungen in ihre eigene Perspektive eines kleinen Mädchens zurück und erzählt, wie dramatisch sich das Leben ihrer Familie von Minute zu Minute änderte. Es beginnt mit der Isolierung allen jüdischen Lebens. Totales Arbeitsverbot – die Pflicht, den gelben Davidstern zu tragen – absolutes Ausgangsverbot – Verlust der eigenen Wohnung – Verlust allen Eigentums – Schaffung eines Ghettos, in dem alle Juden aus Wilna kaserniert werden.

Keine Privatsphäre mehr. Leben mit dutzenden Menschen auf engstem Raum und gleichzeitig der Beginn von Zwangsarbeit für deutsche Firmen. Essen nur noch für diejenigen, die arbeitsfähig sind. Kein Verlassen des Ghettos mehr für Familienangehörige. Und um Platz auf allerengstem Raum zu schaffen, pausenlose nächtliche Aktionen der NAZIS, in denen nach augenscheinlichem Zufallsprinzip ganze Häuser geräumt werden. Das Ziel der jüdischen Menschen, die man abtransportiert, ist der sichere Tod.

Während die Familie Weksler versucht zusammen zu bleiben und allen Aktionen aus dem Weg zu gehen, bildet sich im Ghetto erster jüdischer Widerstand. Man gräbt Verstecke unter den alten Wohnhäusern und versucht während der Aktionen dort Unterschlupf zu finden. Dies alles aus der Sicht eines verängstigten Mädchens zu erfahren macht sprachlos. Hunger, Todes- und Verlustangst prägen ihr Leben und nur ihre Mutter Raja hält die kleine Susie fest, wie ein Fels in der Brandung.

Dank meiner Mutter – Schoschana Rabinovici – NAZIS überall

Dank meiner Mutter – Schoschana Rabinovici – NAZIS überall

Bis Mitte des Jahres 1943 geht dieser Terror unvermindert weiter, bis dem Massensterben eine neue Dimension verliehen werden soll. Die deutsche Wehrmacht muss sich Zug um Zug aus den besetzten Gebieten zurückziehen und so werden die Ghettos „liquidiert“ – das heißt aufgelöst. Massenselektionen entscheiden darüber, wer sofort zu sterben hat, oder wer in einem Transport in ein Konzentrationslager deportiert wird. Während Susie auf diese schreckliche Art und Weise fast ihre gesamte Familie verliert, greift ihre Mutter zu verzweifelten Tricks.

Kinder sind zum Tode verurteilt und so unternimmt Raja alles, um ihre Tochter bei der Selektion älter und größer erscheinen zu lassen. Als auch das scheitert besticht sie einen Wärter und trägt Susie in einem Rucksack über die Rampe in den vermeintlich rettenden Zug. Das Ziel heißt „Kaiserwald“und stellt als KZ die nächste Stufe der industriellen Vernichtung von Leben dar. Stundenlange Appelle in eisiger Kälte, mangelhafte Verpflegung, kaum medizinische Hilfe und willkürliche weitere Selektionen machen das tägliche Leben zum Ritt auf der NAZI-Rasierklinge.

Mehr als brutal und skrupellos agieren dabei die deutschen KZ-Wärterinnen – Blitzmädels genannt. Als die Front sich dem KZ nähert, folgt der letzte Schritt. Er führt die verbleibenden Insassen nach Stutthoff. Ein Vernichtungslager, das man nur durch den Schornstein verlassen würde… so die Begrüßung am ersten Tag. Als der Krieg für die NAZIS verloren scheint, räumt man auch dieses Lager und treibt die letzten tausend überlebenden Frauen in Eiseskälte auf einem Todesmarsch vor sich her.

Dank meiner Mutter – Schoschana Rabinovici – Die vorletzte Station

Dank meiner Mutter – Schoschana Rabinovici – Die vorletzte Station

Wie man das überleben kann? Vielleicht gibt der Lebensbericht von Schoschana Rabinovici Dank meiner Mutter“ (Fischer Schatzinsel) eine Antwort. Trotz aller Zufälle, die über Leben und Tod entscheiden, trotz der perfekten Systematik des Mordens legt die Autorin Zeugnis darüber ab, wie wichtig es ist, zusammen zu bleiben, zu kämpfen und sich nicht aufzugeben. Aus jedem Lichtstrahl, den man sieht, Kraft zu schöpfen und in jedem schmerzvollen Tag eine neue Chance zu sehen. Raja Weksler hat ihre Verantwortung als Mutter selbstlos gelebt. Bis an den Rand der Erschöpfung und fast bis zum eigenen Tod hat sie für ihr kleines Mädchen gekämpft. Dieses Bild gibt Hoffnung – auch im Angesicht millionenfachen Todes.

Die bleibende Traumatisierung ist enorm. Die Verletzungen in seelischer und körperlicher Hinsicht sind dramatisch. Und auch wenn von der ganzen Familie nur drei Menschen überleben, ist das kein Grund zur Freude. Es ist schmerzvoll, den Weg mit Susie Weksler zu gehen. Er macht wütend und öffnet Augen. Dieses Buch ist eines der wichtigsten Zeitzeugnisse, das ich bisher gelesen habe. Es ist eindringlich und äußerst hart. Und doch sollte es gerade von Jugendlichen gelesen werden.

Die Individualisierung des Erinnerns ist für uns der Königsweg „Gegen das Vergessen. Wenn man versucht, sich in Susie Weksler hinein zu versetzen, dann wird man alles unternehmen, damit dieses Unrecht nicht erneut geschehen kann. Und mit Susie zu gehen – von Wilna nach Kaiserwald über Stutthoff bis hin zum Todesmarsch – schärft den Blick auf die Dimension des gesamten Holocaust. Vergesst nicht. Lest. Diskutiert und nehmt dieses einzelne Schicksal stellvertretend für viele.Wir tragen keine Schuld – wir tragen Verantwortung für dieses Erinnern.

Dank meiner Mutter - Eine tragende Säule von "Hannah"

Dank meiner Mutter – Eine tragende Säule von „Hannah“

Pusteblumen-Tag bei Literatwo – Raily fliegt aus

Pusteblume... Flugtag mit Mr. Rail

Pusteblume… Flugtag mit Mr. Rail

„Libri amici – libri magistri sunt“ (Bücher sind Freunde und sind Lehrmeister)

Vielleicht ist das die genau passende Überschrift für das große Lebenskapitel, an dem wir jetzt mehr als vier Jahre gemeinsam unter dem Namen Literatwo geschrieben haben. Bücher sind zu Freunden und Wegbegleitern geworden und haben uns viel mit auf den Weg gegeben. Viele Bücher, die wir „Gegen das Vergessen“ gelesen und vorgestellt haben wurden zu wahren Lehrmeistern, ohne jedoch den buchigen Zeigefinger allzu deutlich zu erheben und dadurch abzuschrecken.

Diese Bücher haben mich vermehrt ins richtige Leben getrieben und auch dazu angeregt, mein Engagement in diesem Bereich deutlich zu intensivieren. Es sind neue Wege, die ich gerne gehen möchte, um das unschuldige und doch verantwortungsvolle Erinnern zu ermöglichen. Es sind Diskussionen, die ich führen möchte mit Menschen, die einen Artikel über die Opfer des Holocaust von sich aus niemals lesen würden. Es ist der nächste Schritt in eine Richtung, den ich bewusst gehen möchte.

Mich treibt diese Suche voran und mich beschäftigen Fragen, die einerseits mit politischen Themen verhaftet sind, andererseits möchte ich intensiv weiter über die weite Welt der Unterhaltungsliteratur schreiben, über alles, was mich so anfliegt, jedes Buch auflesen, das meine Aufmerksamkeit erregt und meine Gedanken fliegen lassen.

Pusteblume... Flugtag mit Mr. Rail

Pusteblume… Flugtag mit Mr. Rail

In jedem nicht gelesenen Buch und in jedem nicht geschriebenen Wort liegt meine ganze Lebenskraft.

Eigene Texte, kurze und lange Geschichte spuken in meinem Kopf umher und bahnen sich ihre neuen Wege und all diese sich neu entwickelnden Schwerpunkte suchen nach Struktur und Form. Ich möchte diesen neuen Weg gehen. Ich möchte auf der Suche bleiben und ich habe keine ahnung, wo diese Reise endet.

„Das Leben ist wie eine Pusteblume: irgendwann muss jeder alleine fliegen!“

So sieht es für mich aus und ich habe mich entschlossen, am heutigen Tag mit meiner Zukunft zu beginnen. Literatwo im Herzen möchte ich nun aufbrechen und diese Reise antreten. Meine absoluten Herzensartikel werden mich begleiten und in diesem Lebens-Archiv weiter mit meinem neuen Lesensweg verbunden sein, ständig aktualisiert und mit den neuen Schätzen meines Lesens verlinkt.

Bianca, ich danke dir für die vier abenteuerlichsten, bewegendsten, emotionalsten und tiefsten Jahre meines literarischen Lebens. Danke für Literatwo und danke für jede gemeinsam gelesene Zeile, jedes inhalierte Buch und jeden tiefen Text, der aus unseren literatwoischen Gedanken entsprang. Der Rückblick auf unsere Zeit ist immer ein guter.

Doch für mich wird es Zeit den Wort-Pusteblumen-Schirm zu ergreifen und dorthin zu fliegen, wo meine Gedanken, Träume und Ziele besser sortieren, fassen und realisieren kann.

Ich packe jetzt meine kleine Rezensentenkiste, lasse ein großes Herz auf unserem Arbeitstisch zurück und lege den Schlüssel dieser wundervollen Villa unter die Fußmatte. In der Kiste ist alles, was mich an unsere Zeit erinnert. Alles. Und neben dem Herz liegt ein kleiner Zettel mit meiner neuen Adresse. Niemand ist aus der Welt und man läuft sich lesend, schreibend und wild gestikulierend immer wieder über den Weg.

Mein neues Zuhause - Herzlich willkommen

Mein neues Zuhause – Herzlich willkommen

Hier findet ihr mich, wenn ihr sucht:

Der Blog heißt AstroLibrium und unter gleichem Namen bin ich auf Facebook als neue Seite zu finden. Die kleine literarische Sternwarte ist eröffnet.

Habt Dank für Euer Lesen. Habt Dank für Euer tiefes Verständnis und so vieles mehr. Literatwo lebt durch Bianca weiter. Ich werde vorfreudig mit meinen Augen über Bücher und Artikel fliegen, die mir nun auf diesem Wege ans Herz gelegt werden.

Und bevor ich jetzt vollends die Kontrolle über meine Emotionen verliere, schleiche ich mich raus. Wir finden uns, passt auf euch auf und lest wie die Teufel… Dafür lohnt es sich zu leben.

Euer Arndt

(Im Herzen immer Teil von Literatwo)
Wir sehen uns… Bei AstroLibrium, wenn ihr mögt.

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Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau

Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau - Verhulst

Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau – Verhulst

Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau, was soll man von einem solchen Buchtitel halten? Besonders, wenn man auf die Originalfassung des Romans des flämischen Schriftstellers Dimitri Verhulst schaut und nicht mehr als die beiden Worte „De laatkomer“ (Der Nachzügler) entdeckt. Warum hat man im Luchterhand Verlag einen solch ungewöhnlichen Titel ausgewählt? Ich habe eine Theorie und sie basiert auf dem Umgang dieses Verlagshauses mit dem Thema Demenz.

Seriös, empathisch, respektvoll und doch mit Klartext… So könnte man bezeichnen, was bisher in der fiktionalen Umsetzung dieser immer weiter um sich greifenden Erkrankung unter dem Namen Luchterhand erschienen ist. Als absoluten Meilenstein muss man hier den Roman „Acht Minuten“ von Peter Farkas bezeichnen, der es erstmals wagte, einen tiefen Beziehungsroman aus der bewegenden Innenansicht eines alten Ehepaars zu schreiben, in dem beide Protagonisten unter dem dunklen Mantel des zerebralen Vergessens begraben sind und doch lieben können.

Insofern verstehe ich den eigenartigen Buchtitel in Verbindung mit dem lustigen, etwas nostalgisch angehauchten Tanzpaar als doppelbödige Warnung an alle Leser. Hier geht es um Demenz und auch der Klappentext weist in seiner humorig wirkenden Art auf eine der größten literarischen Fallen hin, in die man die Leser nicht ohne Vorwarnung stolpern lässt.

Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau - Verhulst

Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau – Verhulst

Désiré Cordier war zeitlebens akribischer Bibliothekar und sieht sich nun mit bereits vierundsiebzig Jahren im Winter seines Lebens angekommen. Die verbleibende Zeit rinnt ihm durch die alten Hände und er erkennt in den unterschiedlichen Situationen seines Daseins, dass sein Einfluss auf die eigene Lebensqualität mit zunehmendem Alter dramatisch zu sinken beginnt. Die Hauptschuldige ist schnell identifiziert. Monique, seine Ehefrau, mutiert zusehends zu einem leibhaftigen Bevormundungs- und Erniedrigungsmonster und engt jeglichen Lebens-Spielraum Désirés ein.

„Ich reagiere schon lange nicht mehr auf die endlosen Tiraden meiner Frau, einer von vielen, möglicherweise Millionen schweigender Männer, die sich gegen die Launen ihrer Gattin mit einem Panzer aus Gleichgültigkeit wappnen.“

„Um meine Selbstachtung zu wahren wählte ich daher den Weg stummer Renitenz: Gegen ihre Giftigkeit bot ich meine Gleichgültigkeit auf.“

Als dann auch noch die Entscheidung (keinesfalls eine gemeinsame) getroffen wird, in eine kleinere Wohnung zu ziehen, sieht Désiré seine Felle endgültig davonschwimmen. Keine Fluchtmöglichkeit mehr, kein Monique-freies Refugium… nein, Arsch an Arsch mit der späten Geißel seines Lebens – so wollte er nicht enden.

Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau - Verhulst

Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau – Verhulst

Désiré beschließt dement zu werden. So schwer kann das nicht sein und er folgt einem ausgeklügelten Masterplan, der zum Ziel hat, nicht nur seiner Frau, sondern auch der ganzen Welt zu beweisen, dass er in seiner allumfassenden Senilität nur noch in einem Pflegeheim vor sich selbst und seiner Umgebung geschützt werden kann.

Den Weg in die gespielte Demenz verfolgen wir Leser mit zunehmendem Amüsement und da wir ihn bis zu diesem Punkt bereits mehr als lieb gewonnen haben, wünschen wir ihm, begleitet von ersten Lachsalven alles Glück der Welt. Irrwitzige Situationen gehören fortan zum festen Tagesablauf von Désiré Cordier. Nicht mehr kontrollierbare Körperfunktionen hat er ebenso im Griff, wie peinliche Einkaufstrips, die im senilen (und damit entschuldbaren) Ladendiebstahl enden.

Zum finalen Showdown stellt er sich einem Alzheimer-Test und – plumps – er kann sich nicht mal die einfachsten Begriffe merken und besteht mit Bravour. Ab ins Pflegeheim. Ein Desaster für Frau und die inzwischen erwachsenen Kinder – der Ruf der Freiheit, die endgültige Insel der vergessenen Glückseligkeit für Désiré Cordier. Ab unter den Mantel der Senilität… es gilt nur noch das Pflegepersonal im Heim „Winterlicht“ täglich von seinem desaströsen Zustand zu überzeugen.

„Obwohl die Tat selbst vollkommener Absicht entspringt, geht es mir gegen den Strich, dass ich jede Nacht wieder ins Bett scheiße. Doch ich würde das Pflegepersonal misstrauisch machen, wenn…“

Mit nur einem Klick zu Opapi, der das Denken vergaß

Mit nur einem Klick zu Opapi, der das Denken vergaß

Über Demenz macht man keine Witze? Das ist ein zu ernstes Thema, um sich hier billig auf die Kosten von unzählbar vielen leidenden Menschen und Angehörigen lustig zu machen? So etwas ist unerträglich, selbst wenn es in Situationskomik und Sprachstil nur so explodiert? STIMMT!

Dimitri Verhulst hat einen eigenen Masterplan, dem er beharrlich folgt und dabei treibt er seine Leser gut gelaunt und lachend vor sich her. Wie auf einem Piratenschiff, das man über die Planke verlässt, fühlt man sich. Hinter sich das waffenstarrende Böse mit lustigen Liedchen auf den Lippen und vor sich der bewusste letzte vermeintlich rettende Schritt. Der Eingang des Pflegeheims „Winterlicht“ wird für Désiré Cordier zum „Point of No Return“ und die Falle schnappt zu.

Verhulst hat es geschafft, durch seine irrwitzig komische Ausgangssituation einen denkenden, bewussten und fühlenden alten Menschen als Under-Cover-Patienten in ein geriatrisches Pflegeheim des 21. Jahrhunderts einzuschleusen. Nun gehen uns die Augen auf. Das erzählerische Stilmittel der Satire hat uns ahnungslos gemacht und blind für das, was uns erwartet. Mit einem brutalen Ruck reißt er Désiré und seinen lesenden Weggefährten die rosa Brille vom Gesicht und lässt uns alle mit offenen Augen und Mündern in den Abgrund medizinischer Abschiebehaft blicken.

Bianca schrieb mir an genau dieser Stelle… „Das Lachen blieb mir im Hals stecken und die Augen öffneten sich immer mehr. Das Weiterdenken… das Überdenken übernahm die Oberhand.“ Dieses Gefühl vereinte uns nachdem wir den Punkt ohne Wiederkehr gemeinsam lesend überschritten hatten.

Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau - Verhulst

Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau – Verhulst

Jedes einzelne Bild, das sich mir nun bietet habe ich erlebt. Jede Situation habe ich am Leib meines eigenen Vaters erlebt. Jedes Szenario tausendfach durchgespielt und jedes Gefühl der Hilflosigkeit bis zum heutigen Tag pausenlos durchlitten. Verhulst lässt nichts aus. Er schlägt gezielt zu – erbarmungslos und mit nachhaltig großer Sprachgewandtheit und Wortwitz, der zunehmend aberwitzig wird. Bis hin zur künstlichen Bushaltestelle, an der die Dementen widerspruchslos auf die nächste Fahrt ins Glück warten. Glaubt mir… daran erkennt man geriatrische Pflegeheime inzwischen.

Verhulsts Stilmittel ist die bitterböse Satire. Die Demenz wird zur Metapher für jede noch so bewusste oder krankheitsbedingte Flucht ins Innere und das Pflegeheim zum Bild für die Vorhölle einer Wohlfahrtsgesellschaft ohne Empathie und jeden nicht gelebten Lebenstraum. Und gerade weil ich all diese Bilder gesehen habe, vermag ich zu beurteilen, mit welch unglaublichem Respekt und mit welch bewundernswertem Einfühlungsvermögen sich Verhulst den Menschen annähert, die sich nicht mal an eine solche Annäherung erinnern würden.

Ich habe Tränen gelacht und geweint beim Lesen. Ich habe geahnt, dass mich Verhulst über die „Planke“ gehen lassen wollte. Ich bin ihm bewusst gefolgt und bewundere diesen Roman, weil er auf eine so unmittelbare Art und Weise gefangen nimmt ohne Mauern zu bauen. Man darf über diese Krankheit lachen, wenn im Ergebnis die Verbeugung vor Kranken, Angehörigen und bemühten aber machtlosen Pflegern nicht nur dem Lachmuskelkater geschuldet ist.

Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau - Verhulst

Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau – Verhulst

Und doch habe ich Verhulst nicht ganz durchschaut, denn am Ende seines Road-Trips in die Pflegehölle hat er eine Überraschung parat, die den bereits offen stehenden Mund, Kinn voran, auf dem hygienisch sauberen Boden aufklatschen lässt.

Dies ist ein Buch zum Vergessen – im wahrsten Sinne des Wortes. Passt auf euch auf, wenn ihr nach Winterlicht geht. Ihr würdet euch wünschen, es vergessen zu können! PRÄDIKAT BESONDERS LESENSWERT!

Wer in seinem Leben auch nur ein einziges Mal mit Jack Nicholson übers Kuckucksnest in die Psychiatrie flog, der mag sich doch nur bitte vorstellen, diese Irrenanstalt hieße „Winterlicht“ und der gute Jack wäre ein scheinbar dementer Greis.

St. Alban – Lesenacht zum Welttag des Buches 2014

St. Alban im Zeichen des Welttages des Buches

St. Alban im Zeichen des Welttages des Buches

Für mich stand der diesjährige Welttag des Buches, neben einer Bücherverlosung auf Facebook, ganz im Zeichen einer Lesenacht im Kinderheim St. Alban am Ammersee. Am 26. April war es nun endlich soweit und die Vorfreude auf unseren zweiten Abend war auf beiden Seiten wohl sehr groß. Die Jugendlichen im Alter von 13 bis 17 Jahren waren neugierig auf neue Bücher und die Neuigkeiten, die wir von der Buchmesse in Leipzig mitgebracht hatten.

Zwei große Themen hatten wir uns selbst vorgegeben. „SELECTION“ und St. Alban – das ist eine ganz eigene Geschichte, die mich vor wenigen Tagen zum Raily-Experiment veranlasst hatte, denn ich wurde tatsächlich von den Jugendlichen im Kinderheim dazu verführt, die ersten beiden Teile dieser Trilogie zu lesen. Ich wollte auf Augenhöhe sein, wenn wir über die Fortsetzung diskutieren… und ich war es! Und wie ich das war…

Darüber hinaus wollten wir den aktuellen Roman Letztendlich sind wir dem Universum egal vorstellen und herausfinden, wie das besondere Thema und die ungewöhnliche Ausgangssituation der Story bei Jugendlichen ankommen. Täglich in einem neuen Körper erwachen, sich in immer neuen Rollen zurechtfinden und sich dabei auch noch unsterblich verlieben. Wir waren fest davon überzeugt, dass wir mit diesem Buch einen perfekten Roman für Jungs und Mädels in diesem Alter im Gepäck haben.

St. Alban - Lesenacht mit besonderen Themen

St. Alban – Lesenacht mit besonderen Themen

Also nehmt bitte Platz, kuschelt euch aufs große Lesesofa, legt euch in einen gemütlich Lese-Sitz-Sack, sucht euch ein paar weiche Lesekissen aus und folgt uns in eine lustige, emotionale und facettenreiche Lesenacht. Nehmt am großen Casting von Selection teil und drückt euch selbst die Daumen, dass unser Universum es euch erlaubt, morgen in eurem eigenen Körper wach zu werden.

Wer weiß, was nach solchen Lesenächten passiert und ob auch jeder Prinz seine Prinzessin findet, oder O-Ton gestern Abend: „Gibt doch auch Jungs die gerne Prinzen finden würden!“ (Warum nicht…)

Der Einstig in „Selection“ war denkbar einfach. Ich erzählte kurz von meinem Experiment, die Bücher selbst zu lesen und von den sehr lustigen Kommentaren in der S-Bahn, als man mich mit diesen Covern in der Hand beobachtete. Als sich das Gelächter langsam beruhigte, war natürlich die Freude über „Die Elite“ groß, die Fortsetzung hatte dank des Sauerländer Verlages den Weg ins Kinderheim gefunden. Aber nicht nur das. Auch die besonderen Lesezeichen, die Grit Kästing mir für diesen Abend geschickt hatte, ernteten ein bewunderndes „Aaaaahhhh“ und „Oooohhh“ und die Begeisterung war groß.

St. Alban und Selection Spiegel und Lesezeichen

St. Alban und Selection Spiegel und Lesezeichen

Sofort wurden Lesezeichen mit Selection-Taschenspiegeln vereint… denn – unglaublich, aber wahr – einige der jungen Damen hatten sich diese Spieglein auf dunklen Kanälen (auch Buchhandlung genannt) schon besorgt und präsentierten die kleinen Schmuckstücke voller Stolz. Es musste nur eine Frage gestellt werden, um eine lange und wundervolle Diskussion in Gang zu setzen: „Was hat euch an Selection gefallen?“

Acht Selection-Leserinnen waren anwesend und die Aufzählung der positiven Seiten dieser Trilogie nahm kein Ende. Sympathien, wundervolle Zitate, traumhafte Situationen und alle nur denkbaren Gefühle, die das Lesen begleiten wurden ins Feld geführt und endlich konnte ich mitreden. Es ist mehr als nachvollziehbar, warum dieser Roman seine Leserinnen (und mich) fesselt und nicht mehr los lässt. Man nimmt selbst eine der Rollen ein und versucht sich vorzustellen, wie man selbst handeln und denken würde. Und wem man letztlich sein Herz schenkt.

Die Vorfreude auf den letzten Teil ist enorm und als ich das Cover des Schlussbandes „The One“ präsentierte, war die Begeisterung zu fühlen. Das weiße Kleid, der Titel und der Blick von America Singer auf dem Buchcover – all das verleitete uns dazu, über das mögliche Ende zu spekulieren. Und die Information, dass bereits im Herbst ein besonderes Buch erscheint, um die Wartezeit zu verkürzen, rief mehr als Begeisterung hervor.

Selection... Wir haben das Ende erfunden... Und was für ein Cover

Selection… Wir haben das Ende erfunden… Und was für ein Cover

Selection – StoriesKurzgeschichten aus Sicht von Aspen Leger und Prinz Maxon mit viel Hintergrundmaterial werden auch im Sauerländer Verlag erscheinen und ich hatte das englische Original schon dabei, um einen ersten Einblick zu ermöglichen. Die Zukunft der Lesenächte in St. Alban scheint gesichert, denn Selection wird uns noch länger beschäftigen. Wir haben gestern übrigens „unser“ Ende der Trilogie erfunden und wir werden überprüfen, ob die Autorin den Gedanken folgen möchte. So sieht es aus:

  • America Singer heiratet Prinz Maxon Shreave
  • Aspen Leger stirbt
  • Das Kastensystem im Königreich wird abgeschafft
  • König Clarkson Shreave stirbt
  • Die Rebellion bricht in sich zusammen

Und als wir das alle gemeinsam und vielstimmig so beschlossen hatten, meldete sich eine einzelne Stimme zu Wort und sagte nur: „Oder vielleicht doch ganz anders…“ (Wir hoffen inständig, dass der Roman nicht mit diesen magischen Worten endet!)

Es bleibt festzuhalten, dass Selection eine absolut beeindruckende Jugendbuchreihe ist, die ihre Leserinnen (und mich) tief in die Handlung saugt und nicht mehr los lässt. Die sozialkritische Botschaft kommt an und die Charaktere binden emotional. Was will man mehr von einem Buch? Wir werden bald die Kurzgeschichten lesen und dann das weiße Traumkleid zu finalen Showdown anziehen… (ich bevorzuge jedoch Hosen!).

Dem Universum ist St. Alban bestimmt nicht egal

Dem Universum ist St. Alban bestimmt nicht egal

Im zweiten Teil der St. Alban-Lesenacht widmeten wir uns einem Jugendbuch, das seine Leser erst finden sollte. „Letztendlich sind wir dem Universum egal“ von David Levithan aus dem Hause Fischer FJB hat uns bereits in seinen Bann gezogen und nachhaltig beschäftigt. Auch lange nachdem wir das Buch geschlossen haben, denken wir darüber nach, was es bedeuten würde, täglich in einem neuen Körper zu erwachen, sich täglich in ein neues Leben zu finden und dabei zu wissen, dass man nur einen Tag bleiben kann, bevor die Reise weitergeht.

Nachdem ich einige Passagen vorgelesen und die Rahmenhandlung beschrieben hatte, sprudelten bereits die Fragen und Vermutungen. Allein der Gedanke, dies könnte wirklich passieren, verleitet zu Gedankenspielen und fordert interessante Gespräche heraus. In welchem Körper möchte man gerne erwachen – in welchem auf keinen Fall? Was, wenn man sich dann verliebt und jemanden davon überzeugen muss, dass nur das wahre Innere zählt und Äußerlichkeiten täuschen?

All diese Fragen kamen sofort auf und entfachten eine Diskussion um ein Buch, das nun gerade in St. Alban gelesen wird. Drei Exemplare wurden uns, zusätzlich zu einer großen Bücherkiste fürs Kinderheim, vom Fischer Verlag zur Verfügung gestellt und so ist gewährleistet, dass nicht nur gelesen, sondern auch zeitgleich weiter diskutiert werden kann.

St. Alban - Eine Bücherkiste und entspannte Leser

St. Alban – Eine Bücherkiste und entspannte Leser

Am Ende der Lesenacht heißt es, Danke zu sagen. Danke an Bianca, ohne die dies alles nicht möglich wäre, auch wenn sie die Lesenacht in Dresden begleiten muss. Du warst dabei. Danke an die Verlage Fischer FJB und Sauerländer, ohne die wir nur Salzstangen zum Besprechen gehabt hätten und Danke an Grit Kästing für eine tolle Lesezeichen-Überraschung. Und Danke an unsere Leser, die alle Kids von St. Alban ins Herz geschlossen haben und uns mit Rat und Tat unterstützen..

Und natürlich Danke an Schwester Anna und die Kids von St. Alban für die tollen Gespräche, eure Offenheit und den großen Bücherspaß, den wir in euren heiligen Hallen genießen dürfen. Am 29. Mai machen wir weiter. Gemeinsam mit Peggy Steike geht es dann um ein sehr wichtiges Thema. Der Holocaust in Wort und Bild… ein gemeinsames Projekt.

Bis dann 😉

SELECTION und DIE ELITE von Kiera Cass

Selection von Kiera Cass - Du hast keine Wahl

Selection von Kiera Cass – Du hast keine Wahl

Ich denke, ich sollte eine kleine Geschichte erzählen, bevor ich mich der inhaltlichen Seite der Trilogie „SELECTION“ von Kiera Cass widme. Wir haben uns in den letzten Jahren mit vielen dystopischen Mehrteilern beschäftigt und sind von Legend“ und „Die Auswahl“ schließlich über „Die Tribute von Panem“ letztlich bis zur „Bestimmung“ gekommen, um immer wieder festzustellen, dass jede dieser Reihen ihre ganz eigenen Stärken und Schwächen hat.

Als dann „Selection“ von Kiera Cass in meinem Briefkasten landete, war mir angesichts des Covers und des Klappentextes schnell klar: „Das ist nichts für mich – ein reines Mädchenbuch und dann auch noch ein buchiges Revival der Bachelor-Casting Show!“ Ich wollte mir die Zeit nicht nehmen und ich vermutete, dass diese Trilogie in der vergleichenden Betrachtungen mit den oben genannten Büchern nur verlieren kann. Also – Finger weg, Raily.

Aber ich hatte die Hoffnung, dass dieses Buch seine Leser findet und so nahm ich es mit in „unser“ Kinderheim St. Alban, das wir seit geraumer Zeit nicht nur mit neuen Kinder- und Jugendbüchern „füttern“, sondern auch mit kleinen feinen Leseabenden erfreuen. Die unmittelbare Rückkopplung junger Menschen hat bei dieser Gelegenheit schon zu tiefen Erkenntnissen geführt und dem Lesen neue Schübe verliehen. Und was soll ich sagen… seitdem Selection in der kleinen Bibliothek des Kinderheims steht, höre ich bei jedem Besuch nur diesen Buchtitel. Immer wieder…

Selection von Kiera Cass - Du bist eine von vielen

Selection von Kiera Cass – Du bist eine von vielen

„So toll… Ich hab es verschlungen… Einfach traumhaft… Wann geht es endlich weiter?“ Und ich habe es nicht gelesen und konnte nicht mitreden. Was also blieb mir übrig, als auch selbst mal einer Empfehlung zu folgen. Einer sehr vielstimmigen und beharrlichen in diesem Fall. Ich wollte herausfinden, was so besonders an Selection ist und wagte lesend das „Raily-Experiment“. Und glaubt mir… mit diesen Büchern unter dem Arm als Mann im Alter von 52 Jahren S-Bahn zu fahren – DAS IST EIN EXPERIMENT!

Die Ausgangssituation der Trilogie ist so einfach wie bestechend plausibel. Nach dem letzten großen Krieg hat sich das Königreich Illeá eine Gesellschaftsform gegeben, die das Überleben der Bevölkerung in schlimmen Zeiten sichern sollte. Es existieren acht Kasten und in jeder dieser sozialen Schichten erfüllt man beharrlich seine Aufgaben. Die erste Kaste ist dem Königshaus vorbehalten und in der achten Kaste befinden sich Tagelöhner und das, was man den Bodensatz der Gesellschaft nennen könnte.

Wechsel innerhalb der Kasten sind kaum möglich. Jedenfalls nicht nach oben. Soziale Aufstiege kennt das System kaum und selbst wenn man jemanden heiraten möchte, der in einer niedrigeren Kaste eingestuft ist, dann muss man halt absteigen, um sich seinen Traum vom gemeinsamen Leben zu erfüllen. Und doch hat sich das feine Königshaus eine einzige wundervolle Möglichkeit ausgedacht, die Menschen bei Laune zu halten. Die Hochzeit des männlichen Thronfolgers wird nicht arrangiert, sondern er darf sich seine Gemahlin aus Mädchen aller 35 Provinzen selbst aussuchen. Ein CASTING für ein besseres Leben.

Selection von Kiera Cass - Die Elite - Du bist dabei

Selection von Kiera Cass – Die Elite – Du bist dabei

35 perfekte Mädchen aus fast allen sozialen Schichten (natürlich keine Achter) und 1 Prinz – das „Bachelor“-Prinzip mit dem großen Ziel vor Augen, sich selbst und die eigene Familie in die höchste Kaste zu katapultieren. Was für eine Chance für jede Einzelne und welch großes Konfliktpotential, wenn die künftigen Prinzessinnen aufeinander losgelassen werden. Und natürlich auch auf den armen Prinzen, für den es gilt, herauszufinden, wer ihn wirklich liebt oder wer lediglich nach Krone und Aufstieg trachtet! Es bleibt nicht viel Zeit, dies herauszufinden.

Möge das Casting beginnen. Und wir lernen sie endlich so richtig kennen. Die Heldin unseres Romans. America Singer, Musikerin und Angehörige der 5. Kaste. Mittelschicht also, bildhübsch und ambitioniert. Ein Mädel, das weiß was es will und sich aus Verantwortungsgefühl für ihre Familie zum Casting bewirbt. Sie möchte ihren Eltern wenigstens für kurze Zeit den Traum vom Königshaus ermöglichen, obwohl sie den Prinzen mit Sicherheit nicht heiraten würde. Aber bewerben kann man sich ja mal, so dachte sie zumindest.

Als dann die Kandidatinnen bekannt gegeben werden, ist es keine Überraschung, dass ausgerechnet „unsere“ America zum Kreis der 35 Mädchen aus dem Königreich gehört. Das musste ja so kommen und bevor sie richtig kapiert, was geschieht, sieht sie sich dem Casting, der weiblichen Konkurrenz und dem attraktiven Prinzen ausgesetzt. Na dann mal ran an den Speck, könnte man meinen. Nutze deine Chance America und versuche dein Glück zu machen, so wollen wir ihr zurufen, als sie für die Zeit des Castings im Palast einzieht… Das würden wir gerne rufen, wäre es nicht so kompliziert…

Selection von Kiera Cass - Deine einzige Chance

Selection von Kiera Cass – Deine einzige Chance

Es könnte doch wirklich ihre große Chance sein. Der einzige Weg zu einer besseren und traumhaften Zukunft. Sie müsste nur ihre Konkurrentinnen ausstechen… Wäre da nicht…

  • jener junge Mann aus der 6. Kaste, in den sie unsterblich verliebt ist
  • ein Prinz, der ihre Gefühle völlig durcheinander bringt
  • ein Leben als zukünftige Königin, das sie nicht leben möchte
  • eine Revolution, die immer näher rückt und das Königshaus bedroht
  • Rivalinnen, mit denen sie sich mehr als eng befreundet und letztlich
  • ihr eigenes Herz, das ihr täglich neue verwirrende Streiche spielt

Kiera Cass überzeugt auch im zweiten Teil „Die Elite“ von Seite zu Seite mehr, sie schöpft das gesamte Potential der Rahmensituation aus, entwickelt fühlbar plausible Charaktere und lässt ihre Leser in Situationen eintauchen, die das Spektrum von Selection immer tiefer spürbar machen. Das Casting wird zum Selbsterfahrungstripp der jungen America und jeder neue Tag stellt sie vor neue Herausforderungen. Sie hat nur ein Herz zu verschenken und genau dieses kleine Herz ist so zerrissen, wie nie zuvor. Sie macht es uns leicht, ihrer America zu folgen – sie macht es uns leicht, alle Prüfungen mit ihr zu bestehen, aber sie macht es uns allen schwer, eine Entscheidung zu treffen. Es ist eine Prüfung des Herzens… eine wirklich harte Prüfung!

Wenn man nun unser eigenes Leben mit der Ausgangssituation von Selection vergleicht, dann stimmt ihr mir sicherlich zu, dass sich die meisten Leserinnen deshalb mit America Singer identifizieren können, weil sie sich selbst irgendwo im Mittelfeld des Kastensystems einordnen. Niemand fühlt sich sonderlich privilegiert oder unermesslich reich und die Chance, einen Prinzen heiraten zu können leuchtet wie ein silberner Hoffnungsschimmer am Horizont.

Selection von Kiera Cass - Du hast nur ein Herz zu verschenken

Selection von Kiera Cass – Du hast nur ein Herz zu verschenken

Was aber, wenn dieser Roman auf junge Mädchen trifft, die sich selbst in der allerletzten Kaste sehen? Elternlos, aus nicht eben besten und sicheren Verhältnissen und mit Perspektiven, die manchmal eher zum Weinen sind? Was geschieht, wenn dieser Roman von Mädchen gelesen wird, die das Gefühl haben, bei einem solchen Casting noch nicht mal in die Vorauswahl zu kommen? Verpufft dann die romantische und hoffnungsvolle Botschaft des Romans?

Keineswegs… und das hat mich mehr als überrascht. Gerade die Jugendlichen im Kinderheim St. Alban haben diese Geschichte inhaliert und durch Kiera Cass das Gefühl vermittelt bekommen, alleine durch das Erlesen der Geschichte auf Augenhöhe zu sein. Teil der Elite… Die eigenen Chancen nutzend, und die eigene Persönlichkeit in die Waagschale des Lebens werfend, den Traum vom selbst bestimmten Leben träumen zu können. Das ist ein großes Buch, dem dies gelingt. Wahrlich.

Am 26. April werden viele Mädels im Kinderheim sich freuen, dass die ersehnte Fortsetzung von Selection bei ihnen einzieht. Unser Leseabend anlässlich des Welttags des Buches 2014 gehört zu einem ganz wichtigen Teil der Elite im Roman und der Elite, die vor ihm sitzt und ihm entgegen fiebert. Und nun kann ich endlich mitreden, denn sie haben es geschafft, mich zum Lesen einer Geschichte zu verführen, die ich ohne sie nicht entdeckt hätte. Hier geht es zum Bericht und nun warten wir gemeinsam auf den letzten Teil warten.

Selection - Der Traum von Samt und Seide - Hier geht es bald weiter...

Selection – Der Traum von Samt und Seide – Hier geht es bald weiter…

Unser besonderer Dank gilt dem Sauerland Verlag für die großzügige Bereitschaft, das Kinderheim St. Alban zu einem wichtigen Teil des Königreichs Illeá zu machen.

Nur der Tod vergisst – Peter Hakenjos

Nur der Tod vergisst - Peter Hakenjos

Nur der Tod vergisst – Peter Hakenjos

Eigentlich können wir in diesen Tagen nicht von friedlichen Zeiten sprechen. Eigentlich dreht sich dem geneigten Leser angesichts der Ereignisse in der Ukraine der friedliebende Magen um, wenn man sich vor Augen hält, dass bewaffnete Konflikte erneut an die europäische Haustür klopfen. Und dabei hatte man gedacht, gerade dieses Haus hätte eine ausgeprägte Alarmanlage. Besonders vor dem Hintergrund der Ereignisse von einst.

Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges liegt gerade einmal 75 Jahre hinter uns und die Narben des großen Weltenbrandes sind noch lange nicht verheilt. Wenn ich in meiner kleinen Redaktion in aller Lautstärke Gegen das Vergessen schreibe, dann nicht ohne meinen Blick in die Gegenwart zu werfen und aufmerksam zu beobachten, wie sehr man gegenseitig anerkanntes internationales Völkerrecht auch heute wieder beugen kann, um eigene Großmachtinteressen zu verfolgen… oder (Strickmuster sehr bekannt) von innenpolitischen Problemen abzulenken.

Diese Bilder im Sinn, werfen wir erneut einen Blick zurück in das dunkelste Kapitel der deutschen Vergangenheit. Ein bis zwei Generationen liegen zwischen uns und der Besetzung europäischer Länder durch die deutsche Wehrmacht und die SS. Nicht viel, angesichts der Zeitspanne, die Zeitgeschichte umfasst. Gar nicht viel. Peter Hakenjos versetzt uns in seinem aktuellen Roman in die letzten beiden Kriegsjahre und wir folgen seinem Protagonisten Ulf Lahner auf seinem Weg durch die Wirren dieser Zeit.

Nur der Tod vergisst - Peter Hakenjos

Nur der Tod vergisst – Peter Hakenjos

Nur der Tod vergisst, so lautet der Titel des Weltkriegs-Romans von Peter Hakenjos, in dem historische genau recherchierte Fakten an fiktiven Charakteren gespiegelt werden. Doch hat sich der Autor hier keine einfache Romanfigur erdacht, die uns die Schrecken der Zeit erleben lässt.

Ulf Lahner meldet sich im Alter von 17 Jahren, völlig verblendet und von der Überzeugung einer ehrenhaften Mission beseelt, im Januar 1944 freiwillig zur Waffen-SS. Und dabei wusste er, was auf ihn zukam. Die übliche Karriere eines Hitlerjungen lag hinter ihm und wenn schon in den Krieg, dann wenigstens zur Elite, so seine Sicht der Dinge. Verwunderung und Erstaunen ruft diese Entscheidung in seinem Umfeld hervor. Absolute Besorgnis bei der Mutter, die nun alleine in Pforzheim zurückbleiben musste und sogar Erstaunen im Rekrutierungsbüro schlugen ihm entgegen.

Der Zweite Weltkrieg sollte für den SS-Kämpfer Ulf Lahner gerade einmal sieben Monate dauern und wir begegnen ihm zu ersten Mal in dem Moment, als alles in sich zusammenbricht. So, wie er selbst zusammenbricht. Verwundet nach der Invasion der Alliierten in der Normandie. Verwundet, dann im Lazarett und später sogar in Gefangenschaft. Acht Monate – zumeist Drill und Ausbildung und dann ab Juni die ersten Gefechte in Frankreich. Rückblenden zeigen seinen Weg. Doch sie sparen ein Ereignis aus. So wie sein Bewusstsein ein Ereignis ausspart. Nur nachts… statt des Schlafes… da kommen die Bilder.

Nur der Tod vergisst - Peter Hakenjos

Nur der Tod vergisst – Peter Hakenjos

Wir erfahren wenig über die Ausbildung in der Kaderschmiede der SS, wir erfahren kaum etwas über die fatale ideologische Ausrichtung der „Führergotteskrieger“, wir erfahren eigentlich erstaunlich wenig auf dem direkten Erzählstrang. Peter Hakenjos geht als Schriftsteller subtiler vor. Er lässt uns ahnen, vermuten, schlussfolgern und erfühlen. Wir werden zu Wegbegleitern von Ulf Lahner und beobachten mit seinen Augen die letzten Kriegsminuten vor seiner Verwundung, seine Genesungszeit im Lazarett in seiner Heimatstadt Pforzheim und viel mehr.

Aus seiner Perspektive erleben wir die Bombardierung der Stadt im Februar 1945, die verzweifelte und hoffnungslose Suche nach seiner Mutter und schließlich, kurz bevor er wieder an der Front kämpfen will, die Gefangenschaft durch britische Truppen. Wir erleben endlos scheinende Vernehmungen und auch hier zeigt sich der noch immer verblendete SS-Mann ungebeugt. Er rechnet auf. Er bezeichnet die brutale Bombardierung deutscher Städte als ebensolche Kriegsverbrechen wie jene, an denen die SS beteiligt war. Und genau dadurch versucht er zu rechtfertigen, was nie zu rechtfertigen ist.

Und doch findet er keine Ruhe, denn nachts kommen die Bilder. Verhöre zeigen langsam aber deutlich, dass er verwickelt gewesen sein muss. Er war da… ohne dass es im Klartext zu Wort kommt. Oradour-sur-Glane. Ein Massaker seiner Einheit an französischer Zivilbevölkerung. Peter Hakenjos lässt es uns ahnen, welche Schuld Ulf Lahner auf sich geladen hat.

Nur der Tod vergisst - Peter Hakenjos

Nur der Tod vergisst – Peter Hakenjos

Dann beginnt die Flucht aus dem Lager der Kriegsgefangenen. Von langer Hand geplant und von immer noch aktiven Strukturen der SS bestens organisiert. Ulf Lahner wird nicht um seiner selbst Willen befreit. Nein – er soll während und nach der Flucht ehemaligen NAZI-Größen als treuer Leibwächter zur Verfügung stehen.

Ich persönlich hätte gerne mehr über die Prägung Ulf Lahners erfahren, mehr über den direkten Weg in die schwarze Uniform mit dem Totenkopf. Es ist mir schwergefallen, seinem Aufrechnen von Schuld zu folgen, weil es nur zum Ziel hat, die eigene Beteiligung an Massakern zu entschuldigen. Die Flucht nach Argentinien wird zum zentralen Element des Romans und auch hier agiert Peter Hakenjos geschickt, indem er die Verstrickungen der SS und die Zukunftsvisionen im Vorbeigehen erfahrbar macht.

Das Paradies der Täter“ (Jürgen Seidel) kennen wir und so lautet das Ziel der fliehenden Elite mit ihren Schutzbefohlenen, die ihnen früher zu befehlen hatten. „Der Siebzehnjährige der aus dem Fenster stieg und verschwand“ oder „Beliebte Wanderwege der SS“… diese Gedanken begleiteten mich bei der Schilderung des Fluchtweges. Er hat für mich zu viel Raum eingenommen im Buch. Auch wenn am Ende der Flucht ein neuer Mensch am Ziel ankommt, so wird seine Wandlung für mich nicht nur durch die Fluchterlebnisse nachvollziehbar.

Nur der Tod vergisst - Peter Hakenjos

Nur der Tod vergisst – Peter Hakenjos

Am Ende stehe ich einem zeitlosen Täter gegenüber, dessen Schuld ihn so unsympathisch und hassenswert macht, dass sein eigenes dramatisches Erleben dagegen verblasst. Ein spätes Geständnis, das es in sich hat, öffnet ihm zwar den Weg in sein neues Leben, aber es öffnet auch ihm die Augen, wie weit er gegangen ist, bevor er es erkannte. Viel zu weit. Unentschuldbar weit.

Peter Hakenjos hat mit „Nur der Tod vergisst (G. Braun Verlag) einen Roman geschrieben, der sich sehr flüssig liest, aber die Perspektive eines ideologischen Täters nicht völlig ausreizt. Hier hätte mich mehr Tiefe in der psychologischen Betrachtung, statt Fluchtbericht interessiert. Die psychische Traumatisierung des SS-Soldaten erscheint in wenigen, jedoch eindrucksvollen, ständig wiederkehrenden Bildern, während er sich ansonsten erstaunlich gut in der Realität zurechtfindet.

Bemerkenswert an diesem Roman ist, dass es der Autor schafft, den Leser selbst zur moralischen Instanz der Handlung zu machen. Wir lassen das Aufrechnen von Schuld nicht zu, wir folgen dem Weg von Ulf Lahner, aber wir folgen nicht auf Augenhöhe, sondern distanziert. Wir übernehmen gerne die Rolle des britischen Offiziers mit deutsch-jüdischer Vergangenheit, der in Vernehmungen mit Ulf Lahner konfrontiert wird. Der Briefwechsel zwischen beiden bildet den Höhepunkt des Romans.

Nur der Tod vergisst - Peter Hakenjos

Nur der Tod vergisst – Peter Hakenjos

Und doch verstehen wir wieder einen kleinen Schritt mehr, wie man in der Tiefe des Geistes einer ideologische Prägung gefangen sein kann, und dadurch das eigene Denken und Handeln unter einem Pseudo-Deckmantel aus Treue und falsch verstandener Kameradschaft zu schützen versucht. Diese Automatismen beschreibt Hakenjos nachvollziehbar und deutlich. Mögen sie nicht mehr greifen…

Den Zweiten Weltkrieg aus Sicht eines SS-Täters zu beschreiben ist ein mehr als mutiger und gelungener Versuch und weckt die Erinnerung an Jonathan Littells Die Wohlgesinnten„, einen Roman, der nicht nur wütend und sprachlos macht, sondern in der direkten Auseinandersetzung mit dem Thema Gedanken freisetzt, die nicht gedacht werden könnten, wenn man nur die Opfersicht bemüht. Den Autoren dieser Werke muss klar gewesen sein, dass man keine Nähe zu ihren Protagonisten aufbauen kann, aber durch die große Distanz entsteht eine unfassbare Nähe zur Zeitgeschichte.

Hakenjos schlägt in seinem Buch eine Brücke in eine längst vergangene, aber immer noch sehr lebendige Zeit. Keine Wunde ist verheilt. Nicht diejenigen der Opfer von Massakern – nicht diejenigen der Opfer von Bombardements – nicht diejenigen der Verfolgten und Gejagten. Und doch bleibt der historische Fakt: Die Bombardierung deutscher Städte war die Antwort auf die Verbrechen, die Nationalsozialisten in die Welt trugen. Ein wichtiges Buch „Gegen das Vergessen.“

Nur der Tod vergisst - Peter Hakenjos

Nur der Tod vergisst – Peter Hakenjos

Daniel Friedman – Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten

Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten - Daniel Friedman

Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten – Daniel Friedman

„Im Nachhinein wäre es besser gewesen, meine Frau hätte mich zu Hause <Meet The Press> sehen lassen, anstatt darauf zu bestehen, dass ich mich durch die ganze Stadt schleppte, nur um Jim Wallace beim Sterben zuzusehen.“

„Davy Crockett hatte die Schlacht von Alamo. Wyatt Earp hatte die Schießerei am O.K. Corral. John F. Kennedy hatte das Zweite-Weltkriegs-Torpedoboot PT 109. John McCain hatte die grausame Kriegsgefangenschaft im Hanoi Hilton. Ich hatte den SHOWDOWN in der geriatrischen Intensivstation. Und YOUTUBE.“

Buck Schatz

der alte dem kugeln nichts anhaben konnten friedmann spacer

Zwischen diesen beiden Zitaten aus Daniel Friedmans Debüt-Krimi „Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten (Aufbau Verlag) liegt ein ganzes Buch. Zwischen diesen Zitaten liegt vielleicht sogar ein ganzes Leben voller nicht bewältigter Erinnerungen, aber was definitiv zwischen diesen Zitaten liegt ist die Begegnung mit dem wohl erstaunlichsten Ermittler, dem wir in den letzten Jahren begegnen durften: BUCK SCHATZ.

Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten - Daniel Friedman

Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten – Daniel Friedman

Kettenraucher (Lucky Strikes stangenweise), ehemaliger Detective im Morddezernat und Legende in der Stadt, die er vom organisierten Verbrechen befreit hat. Etwas nörglerisch, ein wenig zynisch und ein wahrer Held im Polizeidienst von Memphis. Nur… ähm… das ist nun vierzig Jahre her und Buck Schatz ist inzwischen 87 Jahre alt und die einzige Angst, die ihn umtreibt lautet:

„Wie viel Zeit bleibt mir noch, bis ich einer dieser Zombies werde, die unten ohne durchs Pflegeheim tapern?“

Galt er früher als das lebende Vorbild für Clint Eastwood als „Dirty Harry“, so wird er in seinen Verfolgungsjagden heute nur noch von der Angst vor Alzheimer und Parkinson gejagt. Buck Schatz hat sich zur Ruhe gesetzt… endgültig (aber nicht gänzlich unbewaffnet – das war er nie) und genießt den Lebensabend an der Seite seiner Frau. Ob seine Frau das auch so sieht könnte man angesichts seiner liebevollen Umgangsformen schon ein wenig bezweifeln:

„Missmutig war ich eher zum Spaß, nicht notgedrungen.“

„Wenn du wüsstest, Darling, was ich alles missachte. Missachtung hat bei mir nämlich Tradition.“

„Ich mag meine Mitmenschen. Ich kann sie nur nicht ausstehen.“

Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten - Daniel Friedman

Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten – Daniel Friedman

Allerbeste Voraussetzungen also, um zum einleitenden Zitat dieses Artikels zurückzukehren. Fragt sich nur, für wen es besser gewesen wäre, Jim Wallace nicht beim Sterben zuzusehen. Denn am Sterbebett („unverständlich dass man hier nicht rauchen darf, wo es doch sowieso bald…“) seines Kameraden aus dem Zweiten Weltkrieg wird Buck Schatz mit einer Wahrheit konfrontiert, die sein Rentnerdasein über den Haufen wirft.

Kriegsgefangenschaft in einem Deutschen Todeslager. Misshandlung. Folter. Qualen. Grauen und Entsetzen als die Bewacher realisierten dass der Vorname Buck von Baruch abgeleitet ist. Er ist Jude. Buck überlebt die Misshandlungen durch den SS-Offizier Heinrich Ziegler nur durch Zufall. Unvergessen und auf ewig eingebrannt in seinem „MERKBUCH“ unter der Überschrift WAS ICH NICHT VERGESSEN WILL.

Und nun eröffnet ihm sein sterbender Kamerad von einst, dass Ziegler lebt. Heute noch – fast 60 Jahre danach und nicht nur das… er muss steinreich sein, da er mit einer ganzen Wagenladung NAZI-Gold geflüchtet ist. In Buck beginnt ein innerer Kampf, den er seit Jahren der erfolglosen Suche nach seinem Peiniger eigentlich für ausgefochten hielt. Eigentlich wollte er seinem Mantra folgen:

„Nichts werde ich unternehmen. Wenn man die Chance hat, nichts zu tun, sollte man sie ergreifen.“

Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten - Daniel Friedman

Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten – Daniel Friedman

Aber auf der anderen Seite waren da eine offene Lebensrechnung, nicht verwundene Erniedrigungen, ein Jura studierender Enkel namens Tequila der seinen Großvater wachrüttelt und ein weiteres Mantra, das dem ersten ein klein wenig widersprach:

„Nichtstun kann langweilig werden, wenn du es zu lange machst.“

Buck reitet wieder… So könnte man es nennen. Die schlecht sehende und noch schlechter hörende Kavallerie zieht wieder in den Krieg – nicht im Galopp… dafür ist das Schlachtpferd zu betagt. Buck Schatz erhebt sich unter Aufbietung aller Kräfte und beginnt seine Suche nach Heinrich Ziegler. Und wie es nicht anders zu erwarten ist, sticht er damit in ein Wespennest aus Goldgier und Habsucht.

Jetzt bekommt er seine Schlacht von Alamo… (siehe Zitat Nummer 2 zu Beginn des Artikels) Er nähert sich dem Showdown seines Lebens. Und dabei verlässt er sich auf seinen detektivischen Spürsinn und seine Intuition. Einen Cop, der in Zeiten ohne DNA-Untersuchung und Computer dem Verbrechen den Garaus machte, sollte man heute nicht unterschätzen. Die Verfolgungsjagd, zu der er nun (begleitet von seinem Enkel) ansetzt, führt ihn auf vielen Umwegen zum explosiven Showdown.

Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten - Daniel Friedman

Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten – Daniel Friedman

Der Handlung soll nicht vorgegriffen werden, aber Bucks Worte sind auf ewig mit seinen Taten verbunden:

„Um liquide zu werden liquidiert man am besten eine Menge Menschen.“

„Künstliche Wiederbelebung funktioniert nur, wenn sich die Lungen noch im Brustkorb befinden.“

„Er hatte Jesus bei sich, als der Tod zu ihm kam. Ich hatte Smith & Wesson!“

„Das Beste am Sterben, meine Süße, ist, dass man nur noch zu einem einzigen Begräbnis auftauchen muss.“

Wenn ihr den Showdown in der geriatrischen Intensivstation selbst erleben möchtet, dann freundet euch mit Buck Schatz an. Er ist “Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten“ und ihr werdet diese Begegnung nicht vergessen. Nicht nur der alte Mann, auch die Story ist absolut hieb- und stichfest… kugelsicher eben!

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Ein Mann getrieben von seinen Alpträumen, gepeinigt von der nicht bewältigten Vergangenheit und bewaffnet mit der Raffinesse eines explosiven Lebens kokettiert nun mit seinen Ausfallerscheinungen, öffnet Schließfächer nicht mit Sprengstoff sondern mit der Androhung einer Parkinsonattacke und weiß in jeder Lage zu überraschen.

Wie der Showdown endet? Wir wollen ja nicht spoilern… aber auch hier hören wir unserem Buck gerne zu… mehr muss man nicht sagen. Ich glaube, ich habe hier eine Schweinerei angerichtet!“

Daniel Friedman legt mit „Don`t ever Get Old“Der alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten“ ein überraschendes Debüt in unsere Hände. Sollte man den Eindruck gewinnen, hier ginge es nur um einen etwas schrulligen Klugscheißer, der in hohem Alter noch mal so richtig durchstartet, dann liegt man falsch.

Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten - Daniel Friedman

Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten – Daniel Friedman

Friedmans Krimi ist gespickt mit tiefen Hintergründen, die viel über die lebenslange Traumatisierung eines Mannes aussagen. Der Krieg hat Menschen zu dem gemacht, was sie heute sind… das könnte auch für Buck gelten, aber es ist vielmehr der Verlust der Selbstbestimmung, der hier seinen langen Lebensweg brandmarkt. Er arrangiert sich nicht mit dem Älter werden – das Leben selbst hat sich mit Buck Schatz zu arrangieren und unter der rauen Schale entdecken wir von Seite zu Seite einen tiefgründigen Grantler, der ans Leserherz wachsen muss.

Dirty Harry ist tot und Chuck Norris ist langweilig… Buck Schatz ist der Alterspräsident aller Ermittler. Klatscht schön laut, wenn euch das Buch gefallen hat, der Knabe hört nicht mehr so gut! Ein Held übrigens mag er gar nicht sein… das wird schnell klar. Auch hier sollten wir ihm einfach zuhören und dem Dialog mit seinem Enkel aufmerksam folgen. Buck ist Buck:

„Ich hatte geglaubt, ich sei hier der Held“, sagte Tequila.
„Ja, den Fehler machen viele.“

Gönnt euch das fulminante Romanende und die Pointen, die ihr so schnell nicht vergessen werdet. Wir sagen nur Youtube und Chuck Norris. Wer „Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten“ nicht mag, der hat den Schuss nicht gehört!

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PS: In den USA gab es inzwischen ein rauschendes Comeback mit 87… Es bleibt zu hoffen, dass die Lizenzabteilung des Aufbau Verlags schnell zugegriffen hat. Es bleibt spannend…. Zurück zur Zentrale!

Update: Es wurde zugegriffen: Der Alte, der die Rache liebte – Meine Rezension

Ich bleibe am Ball...

Mit einem Klick zur Rache….

[Ernst Jünger] Feldpostbriefe an die Familie 1915 – 1918

Feldpostbriefe an die Familie 1915 - 1918 - Ernst Jünger

Feldpostbriefe an die Familie 1915 – 1918 – Ernst Jünger

Der Erste Weltkrieg spielt für AstroLibrium in diesem Jahr natürlich eine sehr große Rolle. So haben wir bereits zwei Werke irischer Autoren ausführlich vorgestellt und besprochen. John Boynes Jugendbuch So fern wie nah und Sebastian Barrys hochbrisanten Roman Ein langer langer Weg. Weitere fiktionale Texte zum Thema sind bereits gelesen und werden sukzessive in die Bücherkette „Gegen das Vergessen“ eingereiht.

„Das Mädchen und der Krieg“ von Jürgen Seidel, „Zeit der großen Worte“ von Herbert Günther haben bleibenden Eindruck hinterlassen und werden in Wort und Bild gefasst. Und selbst der Briefroman „Eine Liebe über dem Meer“ spielt in weiten Teilen vor dem tragischen Hintergrund des ersten Weltenbrandes, der sich auf den Schlachtfeldern in Europa millionenfach seine Opfer suchte.

Wie ein geheimnisvoller roter Faden verbindet all diese Romane ein gemeinsames erzählerisches Element: Feldpostbriefe spielen eine große Rolle. Sie vermitteln den Daheimgebliebenen Eindrücke vom Leben an der Front, tragen Botschaften voller Sehnsucht und Hoffnungen zu den Frauen und Kindern die so sehr fehlen und sollen gleichzeitig beruhigen und Sicherheit vorgaukeln, wo keine Sicherheit zu finden ist.

Feldpostbriefe an die Familie 1915 - 1918 - Ernst Jünger - Reales und Fiktion

Feldpostbriefe an die Familie 1915 – 1918 – Ernst Jünger – Reales und Fiktion

Die Plausibilität fiktionaler Texte lässt sich gut ermessen, wenn man im realen Leben nach den Vorbildern für solche Stoffe sucht. Gegen das Vergessen zu lesen und zu schreiben führte uns immer wieder in die Nähe der Tagebücher von Ernst Jünger. Sein Roman In Stahlgewittern gehört zu den wohl eindrucksvollsten Werken, in denen ein Augenzeuge der Gefechte seine Erlebnisse verarbeitet. Grundlage für die Präzision seiner Schilderung war das Kriegstagebuch, das Ernst Jünger endlos scheinende vier Jahre lang unter teilweise unsäglichen Bedingungen weiter geführt hat.

Hier finden sich viele Parallelen und Übereinstimmungen, die den Roman so greifbar und authentisch machen. Wie jedoch haben wir heute die zeitgleich geschriebenen Feldpostbriefe an seine Eltern und seinen Bruder zu bewerten? Sind sie authentisches Frontbild, Hilferuf, Spiegelbild der Ereignisse oder verfolgte Jünger mit ihnen ein gänzlich anderes Ziel?

Vor dem Hintergrund seiner Vita lassen die nun vom Klett-Cotta Verlag veröffentlichten Feldpostbriefe an die Familie 1915 – 1918 Ernst Jünger nicht nur in einem anderen Licht erscheinen. Nein – genau dies war seine Intention. Musste ihn der eigene Vater noch kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs mit diplomatischem Geschick aus einer jugendlichen Kapriole bei der Fremdenlegion (er galt dort als Deserteur) befreien, so konnte er diesem zuhause kaum noch unter die Augen treten. Die dominante Vaterfigur wirkte sich mehr als prägend auf das Leben der Familie Jünger aus.

Feldpostbriefe an die Familie 1915 - 1918 - Ernst Jünger

Feldpostbriefe an die Familie 1915 – 1918 – Ernst Jünger

Voller Stolz nahm er zur Kenntnis, dass Ernst sich freiwillig in den Krieg meldete und noch stolzer war er, als sein Sohn an der Front Karriere machte. Mehrfach verwundet, mehrfach ausgezeichnet öffnete sich dem jungen Ernst durch die hohen Verlustraten in seiner Kompanie sogar der Weg zur Offizierslaufbahn. Endlich etwas können, endlich Menschen die zu ihm aufschauen, endlich jemand sein – diese Gedanken müssen viel Raum in seinem Denken eingenommen haben, nachdem sein Weg bis zu diesem Zeitpunkt eher von Enttäuschungen geprägt war.

Und was blieb ihm in dieser Situation anderes übrig, als seinen unerschrockenen Kriegseifer voller Mut und Tapferkeit in den Briefen an seinen stolzen Vater zu dokumentieren. Da wo in den Tagebüchern Verwirrung, Angst und Schrecken herrschen, wird in den Feldpostbriefen eine sachliche Heroisierung des Schreibers selbst vollzogen:

„Endlich habe ich mal einen Gasangriff mitgemacht, oder vielmehr gleich 3 Stück, das ist alles halb so wild.“

„Auch das Schreien der Getroffenen, das Blut und das Hirn des Postens… konnte ich ruhig und lange ansehen.“

Feldpostbriefe an die Familie 1915 - 1918 - Ernst Jünger - Zeitzeugnisse

Feldpostbriefe an die Familie 1915 – 1918 – Ernst Jünger – Zeitzeugnisse

Solche und ähnliche Schilderungen erfüllten die Erwartungen des Vaters. Endlich hatte er den Sohn, den man vorzeigen konnte. Endlich hatte man jemanden, dessen man sich nicht zu schämen hatte. Die Briefe lesen sich wie Berichte aus einer anderen Welt, in der nur einer bestehen kann: Ernst Jünger. Die Namen der gefallenen Kameraden füllen seine Briefseiten, wohl um seine eigene Unsterblichkeit hervorzuheben. Keine Zeichen von Zweifel oder gar Verzweiflung, von Abstumpfung oder Seelenqual. All dies jedoch findet sich in seinen Tagebüchern – und die schrieb er für sich selbst.

Sind die Feldpostbriefe deshalb wertlos oder wenig lesenswert? Nein! Auf gar keinen Fall. Im Wissen um diesen Zusammenhang sind sie mehr als interessant und es beeindruckt zu sehen, wie sehr ein junger Mann im Gefecht seinem Vater entsprechen möchte. Nur die Briefe an seinen Bruder Friedrich Georg, dem er im Gefecht das Leben rettete, sprechen eine andere Sprache. Tief, poetisch und differenziert. Diese Gratwanderung ist literarisch einzigartig und lässt tief in die Seele des späteren Schriftstellers blicken.

Das Gesamtwerk Jüngers gewinnt durch diese Feldpostbriefe eine Dimension, die ich persönlich nicht mehr missen möchte. Das Vorwort des Herausgebers Heimo Schwilk ist geradezu meisterlich verfasst – und dazu brauchte er keine Enzyklopädie. Ihm reichen wenige Seiten um alles einzuordnen. Ich sage wahrlich meisterlich.

Feldpostbriefe an die Familie 1915 - 1918 - Ernst Jünger - Ein Gesamtwerk

Feldpostbriefe an die Familie 1915 – 1918 – Ernst Jünger – Ein Gesamtwerk

Und ganz am Ende sei es mir erlaubt, auf den wahren Hintergrund in den Briefen hinzuweisen. Er „outet“ sich selbst in den jeweils letzten Zeilen seiner Feldpostbriefe. Er zeigt sein wahres Bubi-Gesicht, wenn er anfängt aufzulisten, was man ihm doch bitte an die Front schicken möge. Hach wie herrlich weltfremd, wie abgehoben und verwöhnt der Junge doch war und wovon er nicht lassen konnte. Der harte Hund wird hier weich wie die heiß ersehnte Butter und die Bestellungen an Muttern erreichen von Brief zu Brief neue Höhepunkte…

Beispiele? Und hier gilt es zu erinnern… es geht um Wünsche aus dem Kampfgebiet… im Schützengraben verfasst… und genau dorthin möge man schnell liefern:

  • ein wöchentlich erscheinendes Insektenmagazin
  • Milch, Fruchtsaft, Likör, Cognac
  • 1 Fotoapparat
  • Bonbons, Pralinen
  • Tabak und Zigarren
  • Geld und nochmal Geld
  • Wurst, Konserven, Marmelade (bitte mal andere Sorten)
  • Reclam Hefte zur Berufswahl
  • Nadeln und Kleber zur Käferjagd
  • ½ Dutzend Mausefallen
  • 1 Koffer für den ganzen Krempel

Und als sei die Familie das Zentrallager für militärische Ausrüstung:

  • 1 Pistole (billig)
  • 1 Fernglas
  • 1 Messer
  • Pelzsocken, Handschuhe, Gamaschen
  • Stiefel, Koppel, die gute Mütze (usw…. usw…)

Müssen die Eltern erleichtert gewesen sein, als der Krieg endlich endete und ihre beiden Söhne weitgehend unversehrt überlebt hatten. Ernst Jüngers Feldpostbriefe – ein unverzichtbares Zeitdokument aus dem Ersten Weltkrieg, das man allerdings genau einordnen sollte.

Feldpostbriefe an die familie 1915 1918 ernst jünger erster weltkrieg

Fiktionale Texte sollten immer wieder darauf überprüft werden, ob die aufgeführten Feldpostbriefe authentisch sind. Die Zensur wütete auf beiden Seiten der Kriegsparteien. Ortsangaben und allzu große Zweifel am Erfolg wurden gnadenlos zensiert. Frohe Botschaften sollten die Heimat erreichen. Durchhalteparolen und nicht Angst oder Depression. Unzählige Briefe solchen Inhalts wurden verbrannt und erreichten ihre Empfänger niemals.

Wenn man die in den ersten beiden Absätzen aufgeführten Bücher aus dieser Perspektive betrachtet, dann ist es erstaunlich, dass ausgerechnet der Liebesroman „Eine Liebe über dem Meer“ die inhaltlich plausibelsten Feldpostbriefe beinhaltet. Sie hätten ihren Weg gefunden. Sie zeigen Zeichen von Zensur und verbergen ihre Botschaften zwischen den Zeilen.

„Letters from Sky“ – „Eine Liebe über dem Meer“ – nicht nur vor diesem Hintergrund mehr als ein Meisterwerk. Das steht für mich fest.

Zu allen Artikel zum Ersten Weltenbrand auf AstroLibrium

Zu allen Artikel zum Ersten Weltenbrand auf AstroLibrium

„Dann mach ich eben Schluss“ – Endstation Baum

Dann mach ich eben Schluss - Christine Fehér

Dann mach ich eben Schluss – Christine Fehér

Wenn ich in der Jugendbuchabteilung einer guten Buchhandlung nach einem Roman greife, dann erwarte ich sowohl vom Sprachstil, von der Komplexität der Handlung, vom Alter der Protagonisten und vom Thema, dass sich jugendliche Leser hier in besonderer Weise angesprochen fühlen.

Gerade bei aktueller Literatur für junge Leser, die sich mit den wichtigen Themen Stress, Leistungsdruck in der Schule, Gruppendynamik, Selbstfindung, Mobbing und Erwachsenwerden beschäftigt, hoffe ich immer wieder darauf, Bücher zu finden, die Jugendlichen hilfreiche Bilder vor Augen führen, Halt geben und Orientierungshilfe sein können.

Als Musterbeispiel sei hier „Tote Mädchen lügen nicht“ von Jay Asher aufgeführt. Mehr als intensiv und ohne große Umwege wird hier einer Gruppe Jugendlicher gezeigt, welches Ausmaß an Verantwortung jeder einzelne für den Selbstmord einer Mitschülerin trägt. Lapidare und oberflächliche Bemerkungen führen in offensichtlich ausweglosen Situationen zum finalen Totalkollaps. Eine bestechende Aussage, die haften bleibt und an der junge Menschen wachsen können. Diejenigen, die leiden und diejenigen, die lästern und einengen.

Dann mach ich eben Schluss - Christine Fehér

Dann mach ich eben Schluss – Christine Fehér

Als ich den Roman „Dann mach ich eben Schluss von Christine Fehér las, dachte ich im falschen Lesealter gelandet zu sein. Die Ausweglosigkeit eines jungen Menschen wird in diesem beeindruckenden und tief angelegten Roman fast ausschließlich von Erwachsenen verursacht. Gleichaltrige Freunde setzen dem persönlichen Horrorszenario in weiten Teilen jeweils das I-Tüpfelchen auf und bringen das Fass zum Überlaufen, das Eltern und Lehrer beharrlich geflutet haben.

„Dann mach ich eben Schluss“ ist kein ein reines Jugendbuch, das man zur Pflicht-Schul-Lektüre erheben sollte. Es ist ein psychologisch meisterhaft gezeichnetes Lehrstück für Eltern und Lehrer – es kann rettender Indikator zum rechtzeitigen Erkennen lebensgefährlicher Rückzugsgefechte Jugendlicher sein und es zeigt in unfassbarer Eindringlichkeit, wie viele Möglichkeiten der Hilfe es gegeben hätte, einen sich abzeichnenden Selbstmord zu verhindern.

Dieses Fazit vorangestellt soll auch Erwachsene dazu verleiten, diese Buchvorstellung intensiv zu lesen und dieses Jugendbuch für sich selbst als Pflichtlektüre zu entdecken. Es kann in seiner Schonungslosigkeit die Augen öffnen und entfaltet seine volle Wirkung nur dann, wenn Jung und Alt darüber in Dialog treten können. Und um reden zu können, sollte man die gleiche Sprache sprechen. Versucht es mit diesem Buch… Es hilft, diese Sprache zu finden.

Dann mach ich eben Schluss - Christine Fehér

Dann mach ich eben Schluss – Christine Fehér – Aufprall

Schon auf den ersten Seiten des Romans enden wir dort, wo wir eigentlich nicht enden wollten. Wir enden frontal an einem Baum, hören die hektischen Rufe des Rettungspersonals und bekommen so langsam mit, was hier geschehen ist. Vier Jugendliche im Auto auf der Rückfahrt von einer Party. Endstation Baum. Drei von ihnen überleben teilweise schwer verletzt, der Fahrer selbst stirbt.

Maximilian Rothe, 18 Jahre alt – keinen Tropfen Alkohol im Blut, keine Drogen, übersichtliche Strecke, kein Grund, die Gewalt über den Wagen zu verlieren. Und doch – ein scheinbar gezielter Einschlag mit dem Auto im Baum. Fahrerseite. Tod. Schnell kommt die Frage auf, ob es Absicht, ob es Selbstmord gewesen sein könnte.

Aber wer macht denn so was? Mit seiner Schwester Natalie, seiner Freundin Annika und seinem besten Freund Paul im Auto? Allein, Max kann nicht mehr antworten und einen Abschiedsbrief hat er nicht hinterlassen. Aber ein ganzes nicht gelebtes Leben liegt hinter ihm und es beginnt die Suche nach den Anzeichen dafür, dass es ihm nicht mehr lebenswert genug war.

Dann mach ich eben Schluss - Christine Fehér

Dann mach ich eben Schluss – Christine Fehér – Vorzeichen

Hätte man Augen gehabt, um zu sehen – hätte man Ohren gehabt, um zu hören – hätte man Empathie gehabt, sich in ihn hineinzuversetzen – man hätte nicht lange suchen müssen. Die Gründe für das Scheitern eines jungen Lebensentwurfs lagen nicht im Verborgenen. Sie hüllten Max Rothe ein, wie ein für alle sichtbarer Schleier aus Verzweiflung und Scheitern.

Und nun kommen alle zu Wort. Nacheinander, fein sortiert, Schwester, Freunde, Eltern, Lehrer und aus all diesen Perspektiven ergibt sich ein Mosaikbild von Maximilan Rothe. Eines mit vielen Rissen zwischen den einzelnen Steinchen. Risse, die jeder für sich hätte erkennen können und müssen. Hätte man… hätte man doch nur… dann hätte man ihn erkannt:

Den hochbegabten Zeichner, der jeder von ihm skizzierten Figur ein Leben einzuhauchen vermochte, das die Wahrheit des Charakters in allen Facetten zeigt und der doch nicht zeichnen durfte.  Der väterlichen Vorgabe hatte er zu folgen. Mit aller Strenge. Stundenlanges beaufsichtigtes Mathe-Pauken im Wohnzimmer, Lernen bis zur Verzweiflung und bis zum nächsten Blackout. Vater gab vor – Max hatte sich zu fügen. Volljährig hin oder her.

Dann mach ich eben Schluss - Christine Fehér

Dann mach ich eben Schluss – Christine Fehér – Mathewahn

Dieser Anzug passte ihm nicht. Die Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben und doch nahm die Bevormundung mit subtilen Mitteln und knallharten Drohungen kein Ende. Leben im falschen Film. So muss er sich vorgekommen sein. Und das nicht nur zuhause. Die Schule engte ihn ein. Mathematik und Wissenschaft da, wo er Kreativität brauchte, wie ein Fisch das Wasser. Ein Vertretungslehrer, der ihn in der Abi-Prüfung frontal gegen die Wand laufen ließ, raubte Maximilian die letzte Luft zum Atmen.

Sein einziger Vertrauter – der einzige Erwachsene dem er glaubte, sein Tutor und Klassenlehrer plötzlich krank – Totalausfall, nachdem Max` Vater ihn für das Versagen seines Sohnes mitverantwortlich gemacht hatte. Infarkt. Gesundheit am Arsch und der Rettungsanker für Max verloren.

Seine Schwester Natalie, intensiv mit sich selbst beschäftigt und eher in der Lage, sich gegen den Vater zu behaupten, lebte ihr Leben und erkannte die Enge im Leben ihres Bruders nur oberflächlich und zu spät. Seine Freundin Annika, immer bestrebt aus Max das zu machen, was man einen vorzeigbaren Freund nennt. Verändern wollte sie ihn. Täglich korrigierte und forderte sie, mäkelte und nahm. Sie gab wenig – nicht einmal Halt. Paul, sein bester Freund, ein wichtiger Mensch im Leben von Max. Jemand zu dem er aufblickte. Einserschüler, Mathe-Genie und siegessicherer Sonnenschein. Zu weit weg, wenn es drauf ankam. Zu oberflächlich, wenn Max sich zu öffnen versuchte und zu egoistisch, um sich in seine Lage zu versetzen.

Dann mach ich eben Schluss - Christine Fehér

Dann mach ich eben Schluss – Christine Fehér – Portraits

Niemand kommt für sich selbst zum Ergebnis, er hätte erkennen oder verhindern können. Niemand gesteht sich dies zu, bis jeder eine Papprolle erhält. Der Inhalt öffnet nicht nur die Augen. Der Inhalt verändert das Selbstbild eines jeden, denn es sind Bilder, die Max gemalt hat. Portraits seines Vaters, seiner Freundin, Portraits der Lehrer… Keine Selbstbildnisse, sondern Momentaufnahmen der vernichtenden Wirkung von Menschen auf jemanden, den sie nicht so hätten malen können, weil sie ihn nie richtig sahen. Maximilian Rothe.

Es ist die pure Ironie des Schicksals, dass nur ein Mensch ihn richtig erkannte, so wie Max selbst wahrgenommen werden wollte. Es gab nur diesen einen Menschen, aber auch dieser stand der Entwicklung hilflos gegenüber. Seine einzige wahre und doch heimliche Liebe, von der niemand ahnt, dass sie diejenige ist, die am meisten verloren hat. Auch sie kommt zu Wort. Ganz am Ende… Delia

Christine Fehér schreibt ihren Lesern ins Herz. Sie beschönigt nicht, spricht eine klare Sprache, spricht von Schuld und Mitschuld, von Unvermögen und Teilnahmslosigkeit. Sie spricht aber auch von großer Liebe und von der Ausweglosigkeit eines Lebens, das nicht einmal die Liebe zu retten vermag.

Ein erwachsenes Buch für Menschen, die verstehen wollen. Eines für Jugendliche allemal, auch wenn sie nach dem Lesen wenig ändern können. Diese Verantwortung liegt allein bei uns. Eltern, Pädagogen, Erwachsenen. Diese Verantwortung kann man uns nicht nehmen und wir können sie nicht abstreifen. Ansonsten stehen wir eines Tages vor einem Grab… und stellen uns die dämlichste Frage aller Fragen: WARUM?

Wer das Eine mag, wird das Andere lieben - und umgekehrt...

Wer das Eine mag, wird das Andere lieben – und umgekehrt…

Nachdem dieser brillante Roman im Jahr 2014 mit dem renommierten Jugendbuchpreis Buxtehuder Bulle ausgezeichnet wurde, war es mir ein besonderes Vergnügen, Christine Fehér auf der Frankfurter Buchmesse exklusiv interviewen zu dürfen. Hier geht es zum Messegespräch über Jugendbücher, Bullen, ein gut gehütetes Geheimnis und vieles mehr.

Mit einem Klick zum Interview

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